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Von: Marco Schicker
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Wie der Buchstabe ñ von der Notlösung zum Symbol für das Spanische wurde: Kleine Geschichte eines Ausreißers.
Madrid - Der Buchstabe ñ (sprich: enje, im Wort aber: nj) ist der einzige im spanischen Alphabet, der nicht auf dem Lateinischen gründet, er ist der Spanier eigenes Werk und entsprechend Teil der linguistischen Identität, der Corporate Identity des Spanischen. Auch wenn jedem, der ein paar Worte Spanisch spricht, einige Wörter einfallen werden, in denen das ñ vorkommt, ist es doch erstaunlich, dass das amtliche Wörterbuch der Real Académia Españ(!)ola (RAE) derzeit exakt 15.708 spanische Wörter mit ñ kennt und 350 sogar damit beginnen. Ohne ein ñ könnten die Spanier nicht träumen (soñar), gäbe es kein Bier (caña) und hätte das Land nichtmal einen Namen (España). Und ohne Señoras, Señoritas und Señores, gäbe es auch keine Kinder (niños) und daher kein Morgen (mañana).
Dabei ist die spanische Sprache nicht die einzige, die diese kleine Locke über den Buchstaben kennt. Der Buchstabe machte Weltkarriere, ist heute Teil der offiziellen Umschriften etlicher indigener Sprachen in Lateinamerika vom Quechua bis zum Mapuche oder Guaraní, ebenso auf den Philippinen, auf Guam oder Equatorial-Guinea. Auch die Krimtataren kennen den Buchstaben sowie Stämme im Senegal, Gegenden also, in denen die Spanier nie als Kolonialmacht wirkten. Die auffällige Grafik machte das Ñ zur Ikone, so bezeichnet man die jungen Hispanics in den USA mitunter als Generation Ñ. Mit dem Ñ werben Kultur- und Sportvereine, das Cervantes-Institut und eine nationale Journalistenvereinigung führen das Ñ als Marke im Schild.
Sparsame Mönche, eigensinniges Volk: Wie das Ñ ins spanische Alphabet kam
Erfunden wurde es in Spanien, damals, als es "das" Spanien noch gar nicht gab. Und kurioserweise kam das Land orthographisch sogar bis 1803 klar, ohne ganz offiziell die Welle zu machen. Denn erst seit diesem Jahr taucht das ñ im amtlichen Wortschatz des RAE-Wörterbuchs auf. Doch woher kommt dieser Ausreißer im Alphabet, der sich eitel eine Schmazlocke über die Stirn ondoliert, um sich wichtig zu machen und aus der Reihe der anderen Buchstaben hervorzustechen?
Wir gehen in die Tiefen des Mittelalters zurück und damit in die Klöster, in eine Zeit, da sich aus dem Latein allmählich die romanischen Sprachen formten und immer häufiger auch geschrieben wurden. Die Mönche, die sich als Kopisten und Schreiber betätigten, litten unter permanentem Mangel an Pergament. Das war kostspielig und rar und so mussten pro Zeile möglichst viele Buchstaben untergebracht werden. Das erste ~, von dem man heute weiß, taucht in einem Folianten des Jahres 1176 auf und hatte die simple Funktion einen Buchstaben zu verdoppeln, was Platz und Zeit sparte. Und so wurde aus einer lateinischen (und italienischen) Dame, der donna, eine doña und die blieb es in Spanien auch.
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Denn hier formten die Menschen, die damals - je nach Region - einen wilden Mix aus Vulgar-Latein mit adaptierten, entstellten, zurechtgerückten Vokabeln mit arabischen, französischen und sogar semitisch (hebräisch, phönizisch) und kelt-iberischen Ursprüngen sprachen, den nasalen nj-Laut, dem man mit der Zeit das ñ als schriftliche Entsprechung zuwies. Die gelehrten Klosterbrüder hatten das gar nicht im Sinne, das spanische Volk bog sich seine Sprache einfach zurecht.
Der Buchstabe ñ ist kein archäologisches Relikt, sondern ein kultureller Entwicklungssprung einer romanischen Sprache.
Und, wie berichtet, erst sehr spät, 1803, hatte dann auch die Real Académia das Einsehen, dem Volk auf das Maul zu schauen, das diesen Laut zu ihrem machte, immer da, wo das Latein oder das Italienische zu missverständlich oder zu kompliziert klingen könnten, zum Beispiel beim ringere, wo man das ng zum nj in reñir (streiten, zanken) werden ließ oder aber auch beim annus, dem lateinischen Jahr, das als spanisches ano nur durch das Tilde auf dem n als año ein Jahr bleibt und nicht zum Arsche wird. Denn man hätte es vom ano zwar durch ein zweites n unterscheiden können, aber das funktioniert nur schriftlich.
Der weise König und der Wunsch nach Harmonie: Das Ñ als Antwort auf Kauderwelsch
Noch vor dem RAE nahm sich im 13. Jahrhundert König Alfonso X dem Problem an, dass die Aussprache des nj in jeder Region anders gehandhabt wurde, im Katalanischen siegte das ny, im Portugiesischen das nh, auf Italienisch gn (Spagna) und im Germanischen nj. Alfonso ließ für den höfischen Schriftverkehr der Krone von Kastilien das ñ als vereinheitlichtes Zeichen für all diese Versionen einführen und verdiente sich auch damit seinen Beinamen der Weise. Ein anderer Weiser, der Humanist Antonio de Nebrija wiederum publizierte just im spanischen Schicksalsjahr 1492 (Ende Reconquista, Entdeckung Amerikas) eine "Spanische Grammatik", in der das ñ nicht mehr als Behelf, sondern als eigenständiger Buchstabe aufschien, gerade rechtzeitig also zur eigentlichen Geburtsstunde des modernen Spanien. Nebrija tat das als Dozent des Real Colegio de España im italienischen Bologna, weshalb in Spanien natürlich auch die Spaghetti bolognese, fortan espaguetis boloñesa hießen.
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Fast tausend Jahre Geschichte also hat das ñ auf dem Buckel und erlebte einige Aufs und Abs. Noch in den 1990-er Jahren sollte es dem Regulierungswahn der Europäischen Gemeinschaft und der US-dominierten Internetregulierer zum Opfer fallen, die es im Interesse der Standardisierung von Computersprachen und Tastaturen sowie der Email- und Domainnamen im Internet einfach abschaffen wollten. Doch Spanien formierte seine Legionen, denn nicht nur die damals 45 Millionen Spanier, sondern auch rund 600 Millionen spanische Muttersprachler in Südamerika und anderen Ecken der Welt, verteidigten ihr ñ wacker.
Nobelpreisträger verteidigt Ñ gegen EU und US-Regulierungswahn
Als General schickten sie den Nobelpreisträger Gabriel García Márquez ins Feld, der den Plattmachern die Leviten las: "Es ist ein Skandal, dass die Europäische Gemeinschaft es überhaupt gewagt hat, España vorzuschlagen, das ñ zu streichen, schlicht aus kommerzieller Bequemlichkeit. Die Autoren dieses arroganten Versuchs sollen wissen, dass das ñ nicht einfach ein archäologisches Relikt ist, sondern ein kultureller Entwicklungssprung einer romanischen Sprache, die sich mit diesem einen Buchstaben unverwechselbar machte, wo andere Sprachen noch zwei Buchstaben brauchen."
Der Aufstand hatte Erfolg. Die spanische Regierung verankerte, symbolträchtig, am 23. April 1993, dem Internationalen Tag der Spanischen Sprache, der auch der Todestag von Miguel de Cervantes ist, in einem Real Decreto das ñ als Pflichtzutat jeder Schreibmaschinen- und Computertastatur und als unveräußerliches Element des Spanischen. Dieses Gesetz wurde in den Vertrag von Maastricht integriert und so ist das ñ heute Teil Europas und der Welt und für immer das Siegel Spaniens, Verzeihung, de España.